Dienstag, 25. April 2023

Vor 60 Jahren in Berlin


" In der ersten Zeit lebte unsere junge Familie in Charlottenburg, in der Mierendorfer Strasse. Die Wohnung lag im Hinterhaus in der ersten Etage und war etwas dunkel. Sonnenlicht gab es nur etwa zehn bis fünfzehn Minuten am Tag, und zwar am Küchenfenster. Meine Frau beeilte sich immer, um das Körbchen mit dem Baby für ein Sonnenbad auf die Fensterbank zu stellen. 

Die Wohnung hatte zwei Zimmer, eine Innentoilette und sogar eine Badewanne. Ich verbrachte meine Kindheit im Kreuzberg(Wrangelstrasse) in einer Hinterhaus- Wohnung, die hatte Küche und ein Zimmer. Die Toilette im Treppenhaus war für die zweite und die dritte Etage gemeinsam. Das Badezimmer war ein Spülstein in der Küche. Daher fand ich unsere Wohnung in der Mierendorfstrasse fast luxuriös. Nur die junge Mutter war unzufrieden und suchte nach mehr Licht in einer schöneren Bleibe. Wir fanden eine helle, komfortable Neubauwohnung in Berlin Lichterfelde- Ost. Sie hatte grosse Fenster, ein seperates Kinderzimmer und ein Badezimmer.  Der Haken dabei war, wir mussten fünftausend Mark Baukosten- Zuschuß zahlen, damals ein Jahreslohn. Ich brauchte einen zweiten Job.

Also musste Geld her, ich büffelte für den Taxischein und bekam ihn. Die erste Lektion für Taxifahrer hieß warten am Ende einer Schlange weiterer Taxen. Doch als ein Fernzug im Bahnhof Zoo ankam stürmten hunderte von Reisenden zum Taxenstand. Im Nu stand ich an erster Stelle und ein sehr dünner, riesengroßer Mann riss die Beifahrertür auf sagte: "Mäh, mäh" und lies sich auf den Sitz fallen. Mein erster Fahrgast!

"Wohin möchten Sie?"  "Mäh, mäh" schnarrte er mit erhobener Stimme. In meiner Verzweiflung nutzte ich das Funkgerät und fragte kleinlaut: "Kollegen, kann mir einer helfen, mein Fahrgast möchte nach mäh-mäh?" Aus dem Lautsprecher kamen viele Stimmen, einer brüllte: "Immer diese Anfängerkutscher". Eine andere, sehr ruhige Stimme sagte: " Kollege, keine Aufregung, der Fahrgast möchte in die Goerzallee zur Mac Nair- Kaserne in Lichterfelde."  Große Erleichterung!  "

- von Paul August W., erzählt aus seinen Memoiren

8 Kommentare:

  1. Das ist recht lustig...besonders hat es mir das Wort "Spülstein" angetan, es weckt so viele Erinnerungen!

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    1. hatten wir auch, gab es auch aus sandstein, das war was! herzlich, roswitha

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  2. Hallo Roswitha, gleich und sofort erkannte ich die Türme von der Oberbaumbrücke auf dem Foto. - Zuerst dachte ich, du erzählst deine Erinnerungen, bis ich unter dem Text sah, dass da ein anderer schrieb.
    Lichterfelde-Ost war ja von 2000 - 2015 MEIN S-Bahnhof. Aber die Goerzallee mit der Kaserne ist nicht in Lichtenberg (denn das wäre Ostberlin), sondern auch in Lichterfelde, da war nämlich meine Bushaltestelle - Damit hast du mir eine große Freude gemacht.
    Lieben Gruß von Clara

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    1. danke, habe lichterfelde korrigiert. ich freue mich über deine freude, paul ist übrigens echter berliner, erzählt auch so. herzlichen gruß, roswitha

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  3. Schöne Erzählung, die auch bei mir Erinnerungen an den Spülstein und ein Aussenklo (auf dem Lande) weckt.
    Und die Nöte eines Taxifahrers sind auch nachvollziehbar.
    Wie gut, dass es immer auch nette Kollegen und Kolleginnen gab und gibt.
    Lieben Gruss in den Tag,
    Brigitte

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    1. liebe brigitte, was geht es uns gut gegenüber unseren ahninnen, denke ich manchmal. nette kolleginnen und kollegen kann man zu jeder zeit brauchen. herzlichen gruß, roswitha

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  4. Sehr gelacht über das Erlebnis mit dem ersten Taxi-Fahrgast. You made my day. Hoffentlich gibt es mehr davon zu lesen. Die Wohnverhältnisse in der Wrangelstraße kommen mir sehr bekannt vor. Unsere WG ist in der Nachbarschaft und 1984 bei Mietvertragsabschluß war es hier ähnlich.

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  5. das freut mich und besonders paul, den damaligen taxifahrer. er ist jahrgang 1934 und ich bedauere sehr, dass er nicht mehr seiner erlebnisse aufschreibt. er macht immer noch musik in altenheimen, singt mit den bewohnern. ich werde ihn bearbeiten für mehr texte, leider wohnt er nicht in meiner nähe, sonst könnte ich aufschreiben.
    herzlichen gruß, roswitha

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