Samstag, 29. April 2023

Barcelona 2011 und mehr


Man ist mit sich allein. Mit den anderen zusammen sind es die meisten auch ohne sich. Aus beidem muss man heraus.  Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung

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Im Liegewagen der Schweizer Bahn: Links durch die Fenster sehe ich rotgolden die Sonne über dem Mittelmeer aufgehen, rechts sehe ich die Schneegipfel der Pyrenäen. Die Landschaft ist karg, die wenigen Häuser meist tonfarben, mit flachen Ziegeldächern. Knorrige Bäume, ein sumpfiges Naturschutzgebiet, Bäche strömen aus den Bergen.

Es ist sieben Uhr, die Nacht ist überstanden, und mit ihr zwölf Stunden Bahnfahrt. Ich freue mich auf Barcelona, nur noch drei Stunden bis zum Ziel!

Ankunft: Frühling ist, die Mandelbäumchen blühen, Bougainvillea und Hibiskus. Die Kamelien in den Beeten haben kleine, dicke Stämme, stehen offensichtlich seit Jahren auf einer Verkehrsinsel! Ficus benjamini steht in Kübeln überall, Oleander und Pittosporum als Straßenbegleitgrün, Geranien an Balkonen. Im botanischen Garten auf der Meerseite exotische Blüten in Blau und Rot...

Ich sehe die aufmerksame Fürsorge in den Augen des Busfahrers. In der Rushhour des Samstagmorgens beobachtet er die alte Frau, die zitternd in den Bus steigt, ihre Fahrkarte langsam in den Entwerter schiebt und sich dann hinsetzt. Der Bus bleibt stehen bis sie sicher sitzt! Alle warten, außen und innen, inzwischen war die Ampel wieder rot.

Bei Grün fährt er los und alle sind froh: die alte Frau, weil sie in den Bus kam, die Fahrgäste, weil es keine Angst macht, alt zu werden, solange Rücksicht genommen wird, und der Busfahrer, weil er sich die Zeit nahm.

Es ist, als hätten wir alle einige Minuten geschenkt bekommen, manche lächeln, niemand wirkt ungeduldig. Selbstbestimmte Teilnahme im Alltag, alt werden ohne die Angst, in ein Reservat gedrängt zu werden, das wünschen wir uns.

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Eine angenehme Walpurgisnacht oder Tanz in den Mai, was mögt Ihr?



Donnerstag, 27. April 2023

Berlin: Nachttaxi vor 60 Jahren


 Teil 2 von Paul A. Ws Memoiren:

Amerikanische Soldaten waren bei Taxifahrern nicht sehr beliebt: sie gaben wenig Trinkgeld, sprachen schwerverständliches Englisch und fuhren meist nur Taxi, wenn sie nach einer Kneipentour dringend zur Kaserne mussten.
Die Hauptstrasse in Schöneberg war besonders verrufen, dort waren viele Nachtbars und die Soldaten wurden von hübschen Mädchen beim Feiern um ihre Dollars erleichtert. Viele Taxen schalteten dort nachts das Taxischild aus und fuhren an den winkenden GIs vorbei.
Einmal gegen Mitternacht stand ein kleiner dunkelhäutiger GI winkend am Straßenrand. Da auf meinem Weg nach Hause zwei Kasernen lagen dachte ich, was kann schon passieren, und hielt an. Er riss beide Türen der Taxe auf und aus einem Hausflur stürmten fünf seiner Kameraden. Alle warfen sich in die Taxe, auf der Hinterbank saßen zwei auf dem Schoß der Kollegen. Der Anhalter saß auf dem Beifahrersitz. Sie wollten zur Andrew-Kaserne in der Finkensteinallee. Ich hatte inzwischen meine Tränengas- Sprühdose in die linke Hand genommen. Bei der nächsten roten Ampel schrie einer:
"mack schneller!" Ich machte eine Vollbremsung, drehte mich um und sagte: "Hier drive ick!"
Peinliches Schweigen, dann kam eine Stimme aus dem Menschenhaufen hier mir: " Oh, he speaks englisch."
Es wurde grün und ich fuhr weiter, nur noch wenige Minuten bis Mitternacht. Zur Kaserne noch mindestens 10 -15 Minuten, um 24 Uhr war Zapfenstreich(so hieß der militärische Feierabend). Das Kasernengelände war ziemlich groß und auf den anderen Straßenseite war nur ein Park, keine Häuser, es war dunkel und menschenleer.
Vielleicht 100 Meter vor dem Tor mit den davorstehenden MP- Posten sagte einer der Soldaten:" Stop it!" Da wusste ich, es wird mulmig. Ich gab Vollgas und fuhr zum Kasernentor. Die Militärpolizei öffnete die Autotüren, die Soldaten mussten aussteigen und sich aufstellen. Wie von mir befürchtet, hatte niemand mehr Geld. Einer wurde aufgefordert, Geld zu besorgen und ich wurde bezahlt.
Nach einem Dank an die Militärpolizei fuhr ich weiter, Trinkgeld bekam ich keins.  

Dienstag, 25. April 2023

Vor 60 Jahren in Berlin


" In der ersten Zeit lebte unsere junge Familie in Charlottenburg, in der Mierendorfer Strasse. Die Wohnung lag im Hinterhaus in der ersten Etage und war etwas dunkel. Sonnenlicht gab es nur etwa zehn bis fünfzehn Minuten am Tag, und zwar am Küchenfenster. Meine Frau beeilte sich immer, um das Körbchen mit dem Baby für ein Sonnenbad auf die Fensterbank zu stellen. 

Die Wohnung hatte zwei Zimmer, eine Innentoilette und sogar eine Badewanne. Ich verbrachte meine Kindheit im Kreuzberg(Wrangelstrasse) in einer Hinterhaus- Wohnung, die hatte Küche und ein Zimmer. Die Toilette im Treppenhaus war für die zweite und die dritte Etage gemeinsam. Das Badezimmer war ein Spülstein in der Küche. Daher fand ich unsere Wohnung in der Mierendorfstrasse fast luxuriös. Nur die junge Mutter war unzufrieden und suchte nach mehr Licht in einer schöneren Bleibe. Wir fanden eine helle, komfortable Neubauwohnung in Berlin Lichterfelde- Ost. Sie hatte grosse Fenster, ein seperates Kinderzimmer und ein Badezimmer.  Der Haken dabei war, wir mussten fünftausend Mark Baukosten- Zuschuß zahlen, damals ein Jahreslohn. Ich brauchte einen zweiten Job.

Also musste Geld her, ich büffelte für den Taxischein und bekam ihn. Die erste Lektion für Taxifahrer hieß warten am Ende einer Schlange weiterer Taxen. Doch als ein Fernzug im Bahnhof Zoo ankam stürmten hunderte von Reisenden zum Taxenstand. Im Nu stand ich an erster Stelle und ein sehr dünner, riesengroßer Mann riss die Beifahrertür auf sagte: "Mäh, mäh" und lies sich auf den Sitz fallen. Mein erster Fahrgast!

"Wohin möchten Sie?"  "Mäh, mäh" schnarrte er mit erhobener Stimme. In meiner Verzweiflung nutzte ich das Funkgerät und fragte kleinlaut: "Kollegen, kann mir einer helfen, mein Fahrgast möchte nach mäh-mäh?" Aus dem Lautsprecher kamen viele Stimmen, einer brüllte: "Immer diese Anfängerkutscher". Eine andere, sehr ruhige Stimme sagte: " Kollege, keine Aufregung, der Fahrgast möchte in die Goerzallee zur Mac Nair- Kaserne in Lichterfelde."  Große Erleichterung!  "

- von Paul August W., erzählt aus seinen Memoiren

Freitag, 21. April 2023

Betrachtungen


Leben allein genügt nicht, sagte der Schmetterling, Sonnenschein, Freiheit und eine kleine Blume muss man auch haben.

 - Hans Christian Andersen, dänischer Dichter und Schriftsteller -

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wartet doch einfach, bis die gelbe blüte verblüht ist. danach kommen die durchsichtigen kugeln, samen ihrer art streut die ausdauernde pflanze in alle richtungen. und jedes kind hilft gerne dabei, indem es mit blasen die samen auf ihre reise schickt. wer hilft mit?

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aus: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge ist der Titel eines 1910 veröffentlichten Romans in Tagebuchform von Rainer Maria Rilke: 

es gibt eine menge menschen, aber noch viel mehr gesichter, denn jeder hat mehrere. da sind leute, die tragen ein gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den falten, es weitet sich aus wie handschuhe, die man auf der reise getragen hat. das sind sparsame, einfache leute; sie wechseln es nicht mehr, sie lassen es nicht einmal reinigen. es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das gegenteil nachweisen? nun fragt es sich freilich, da sie mehrere gesichter haben: was tun sie mit den andern? sie haben sie auf. ihre kinder sollen sie tragen. aber es kommt auch vor, dass ihre hunde damit ausgehen. weshalb auch nicht? gesicht ist gesicht.


ich wünsche euch allen ein inspirierendes wochenende, mit träumen, schauen, hören oder sehen, hauptsache ist wohl, sich lebendig zu fühlen. vielleicht spürt ihr die frühlingssonne...


noch ein paar Buchempfehlungen, am 23. April ist Buchsonntag:
Jana Simon, Sei denoch unverzagt, Fischer tb., Enkelin im Gespräch mit ihren Großeltern Christa und Gerhard Wolf  - hat mir sehr gefallen und ich erfuhr viel über den DDR - Kulturbetrieb. 

Judith Hermann, Wir hätten alles gesagt, S. Fischer, ein Buch über das Schreiben und Familie, Sommer am Meer und Suche nach Identität.

Antoine Laurain, Der Hut des Präsidenten, Knaur TB, die außergewöhnliche Reise eines Hutes, den jemand vergißt, ganz ohne Zauber verändert ein schwarzer Filzhut die Leben der Träger. 
„Es muss übrigens darauf hingewiesen werden, dass die Gesellschaft, die so heftig bestrebt ist, die Rechte des Embryos zu verteidigen, sich um die Kinder nicht kümmert, sowie sie auf der Welt sind.“

Quelle: https://beruhmte-zitate.de/autoren/simone-de-beauvoir/
„Es muss übrigens darauf hingewiesen werden, dass die Gesellschaft, die so heftig bestrebt ist, die Rechte des Embryos zu verteidigen, sich um die Kinder nicht kümmert, sowie sie auf der Welt sind.“

Quelle: https://beruhmte-zitate.de/autoren/simone-de-beauvoir/



Dienstag, 18. April 2023

identitäten im wandel

 

                                                              Paul A. Wagner, Bildhauer

                             

                   Transvestit

                    Meine blutroten Lippen sind Signal

                    des Triumpfes über das Getrenntsein.


über zwanzig jahre sind diese figur und mein text alt. das wissen über geschlechterprägung und der umgang mit menschen, die sich nicht heimisch fühlen in ihrem körper, hat sich verändert. leider gibt es immer noch gelegentlich schlimme anfeindungen, körperliche gewalt und diskriminierung. auch ehe für alle ändert daran nichts.

es wäre auch an der zeit zu lernen. lasst uns doch freundlich miteinander umgehen, wenn mir etwas fremd ist, dann muss ich nicht enge freundschaft schliessen. aber die welt ist bunt und für alle sollte überall platz sein wenn sie niemanden zum opfer machen. 

heute abend sah ich einen bericht im hr, dort wurde gesagt, die verurteilungen wegen des § 175 hatten sich von 1949 bis zur ersten änderung 1969 mehr als verdoppelt gegenüber der nazizeit. es wurden  ganz üble praktiken der sittenpolizei berichtet. und die alten männer dauerten mich. einer war wegen verstosses gegen § 175 zu sechs monaten gefängnis verurteilt worden, mit vier jahren bewährung(er liebte einen mann), durfte nur mit mördern und anderen schwerverbrechern zum hofgang. er hat noch nach jahrzehnten ein trauma. auch die alten frauen(in meinem alter etwa) bewegten mich mit ihren berichten. und der alte richter, dem seine damaligen urteile leidtaten, er litt offensichtlich.

https://www.hr.de/presse/der-hr/2023/doku-queertopia-in-der-ard-mediathek-v1,doku-queertopia-ard-mediathek-100.html  




Sonntag, 16. April 2023

glück und eile und gelassenheit



"Glück entsteht oft durch Aufmerksamkeit in kleinen Dingen, Unglück oft durch die Vernachlässigung kleiner Dinge."    Wilhelm Busch

da zeigte uns jemand fürsorglich den weg zur freiheit, und es ist gleich der erste ausgang! es wäre glück, sollten wir die freiheit suchen. aber warum suchen wir sie außerhalb von uns? 
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KEINE EILE

Ich habe keine Eile.
Wozu Eile?
Sonne und Mond haben keine Eile: Sie tun recht daran.
Wer Eile hat, glaubt, er kann seine Beine überholen.
Oder mit einem Sprung über seinen Schatten springen.
Nein, ich habe keine Eile.
(...)

Fernando Pessao, 1888 - 1935
portugiesischer Dichter und Schriftsteller

ich wünsche allen hier lesenden einen angenehmen start in die kommende 16. woche dieses jahres.

Mittwoch, 12. April 2023

Regen - Freude

                                                  tante emma- multifunktionsladen- 


Karl Valentin „Ich freue mich, wenn es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch.“ 

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Noch eine komische Geschichte aus 2014:

Die SPD-Zeitung "Vorwärts" hatte den im November 2013 gestorbenen Kabarettisten Dieter Hildebrandt versehentlich zu ihrem Sommerfest 2014 eingeladen. Über diesen Fauxpas hatte zuerst die "Westdeutsche Allgemeine Zeitung" berichtet.

Demnach hat der Künstler, Schauspieler und Autor eine schriftliche Einladung zum Sommerfest des Verlags erhalten. "Offensichtlich war Herr Hildebrandt noch im Verteiler, weil er uns viele Jahre eng verbunden war", sagte die Pressesprecherin des Berliner "Vorwärts"-Verlages, zuständig für die Organisation des Festes.

Hildebrandts Witwe Renate Küster reagierte laut "WAZ" mit schwarzem Humor: In der Fax-Anmeldung kreuzte sie das Feld "Nein, ich kann leider nicht kommen" an. Handschriftlich habe sie dazu geschrieben: "weil ich, Dieter Hildebrandt, am 20. Nov. 2013 leider verstorben bin. Herzlichen Gruß, die Witwe".

Kommentar:

Es handelt sich um ein Phänomen der Kommunikationsgesellschaft, die vernetzt mit systemgesteuerten Automaten und Programmen die Feinjustierung verloren hat. Alle benutzen generierte Textbausteine und Dateien, niemand checkt die Nachrichten/Einladungen und Kontostandsbewegungen mehr nach und dann passiert es. Meine besondere Freude war die sehr bemerkenswerte Reaktion von Frau Küster:

"... und wenn sich etwas an diesem Zustand ändern sollte, wird er sich bei Ihnen melden."

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Wie sehr vermisse ich Dieter Hildebrandt! Ich denke an seinen möglichen Gesichtausdruck beim Anschauen der Tagesschau...




Donnerstag, 6. April 2023

Frühling Leidseplein in Amsterdam


                                                       

AMSTERDAM, Leidseplain

Frühlingsgrün die vielen Bäume. Blütenblätter schwammen in Schwärmen auf den Grachten. Es roch nach Benzin, Kebap und modrigem Wasser. Temporeich die Bewegungen in der Straße, ein buntes Gewirr aus Straßenbahnen, Bussen, Taxis, Zweiradfahrern, Autos und mutigen Fußgängern.

Eine Ecke weiter, am Hotel Americain mit dem berühmten Literatencafe, warfen Blumenbeete mit tausenden weißer und blauer und rosa Hyazinthen betörende Duftfallen aus. Schön geschwungene Holzbänke luden zum Verweilen ein.

Der Leidseplain umfing mich mit Bildern von lebhafter Vielfalt. Ich wurde Teil des Platzes, bewegte mich im Strom der Menschen, ließ mich verzaubern von Details und genoss das Ganze. Es gab Schau – Spiele, deren Drehbuch den Akteurinnen selbst neu schienen:

Zwei blonde Frauen, wohl Anfang dreißig gingen, scheinbar zielstrebig, vorüber. Plötzlich blieb eine stehen, lachte und begann zu steppen. Dabei schnippte sie mit den Fingern und verbeugte sich graziös nach ihrem improvisierten Stepptanz.

Ich klatschte Beifall, zwei ältere Frauen von der Nebenbank fielen ein, gelöst und heiter lachten wir uns an. Die "Leichtigkeit des Seins“ wurde spürbar! Die jungen Frauen liefen lachend weiter. Meine Nachbarinnen erklärten, sie seien aus Brasilia. Leider konnten sie kein englisch und ich kein portugiesisch. Ihrer melodischen Unterhaltung hörte ich zu und überlegte worüber sie so angeregt reden könnten. Die Freude über jenen spontanen Tanz hatte uns einen Moment lang verbunden.

Ein junger Mann von vielleicht fünfundzwanzig Jahren breitete eine glatte Folie in einer Ecke des Platzes aus. Er sagte, er sei aus Nigeria und reise tanzend um die Welt. Anschließend warf er seinen Kassettenrecorder an und eine furiose Vorstellung begann: Breakdance der akrobatischen Art. Er wirbelte auf seinem Kopf so um die eigene Achse, dass einem fast schwindlig wurde, tanzte gestützt auf eine Hand, bewegte sich, als wisse er nicht mehr oben und unten zu unterscheiden, schlug Saltos aus dem Stand. Dabei hörten wir einen Sprechgesang vom Band. Alles an dem Tänzer war dunkel, seine Kleidung, sein Helm, seine Haut. Umso mehr fielen sein lachender Mund und seine Augen auf.

Am Ende dieser atemberaubenden Vorstellung sagte er, er lebe vom Applaus, aber für die Eisenbahn brauche er Geld. Er bekam viel Applaus und leider wenig Geld!

Eine Weile später, das Publikum hatte sich wieder verlaufen, gingen vier junge Mädchen vorüber. Sie blieben an einer Laterne stehen, eine nahm ihre Brille ab und streifte sich zwei Augenklappen über. Sorgfältig arrangierten ihre Freundinnen die beiden Gummibänder unter dem langen blonden Haar. Danach setzte sie ihre Brille über die Augenklappen und ließ sich von den anderen führen.

Ein neues Spiel? Selbsterfahrung? Hörtraining? Die vier gingen vergnügt weiter.

In der aufkommenden Dämmerung begann ein Jongleur seinen Auftritt: Spiel mit zwei laufenden Motorsägen, Spiel mit Machete, Motorsäge und Apfel - am Ende war der Apfel gegessen! Zum Schluss jonglierte er mit drei brennenden Fackeln auf dem Hochrad. Sehr spektakulär, sehr laut und sehr gekonnt!

Freitagmittag fuhren demonstrierende Stadtarbeiter am Platz vorbei. In ihren Haaren leuchteten gelbe Bänder. Laut hupend forderten sie Lohnerhöhung. Ein Streikbrecher - Team  der Stadtreinigung kam trotz der Demo zum Platz. Der Arbeiter hielt einen Saugrüssel über den Papierkorb, sein Kollege im kleinen Müllauto drückte einen Knopf, ein leises Plopp und leer war der Papierkorb. Flott, hygienisch und notwendig, Burger King, Mc Donalds und Co. sei es nicht gedankt. Müll als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, dieser Aspekt ist neu und unbefriedigend.

Abends mischten sich die Parfümwolken der Theaterbesucher mit dem Geruch des Tages. Die Leuchtreklame am Eckgebäude der Versicherung gegenüber dem Hotel Americain flimmerte grell, darunter funkelte rot eine Laufschrift mit Nachrichten und Börsenberichten.

Schräg gegenüber ist die Stadsschouwburg, das Stadttheater, ein prächtiges Gebäude mit schönen alten Lampen! In der Dunkelheit blinkten die Lichterketten im Geäst der Platanen am Leidseplain und wetteiferten mit den Lampen darum, die Szene angemessenen auszuleuchten.

Irgendwann zwischen dem Trubel der Nacht und der Morgendämmerung glaubte ich, den Atem der Stadt zu spüren.

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mit diesen erinnerungen an einen frühlingsurlaub vor fünfundzwanzig jahren wünsche ich allen hier lesenden angenehme feiertage. möget ihr etwas von der leichtigkeit erfahren, die ich damals spürte, die mir eine wertvolle erinnerung wurde.

 

Sonntag, 2. April 2023

vorsorge und angst

                                                            Heiko Pippig


es gibt wenige dinge in unser aller leben, die so sicher sind wie unser tod. nur denken wir uns den meist in eine etwas fernere zukunft. wir wissen natürlich theoretisch von der unsicherheit unserer planungen, sogar neunzigjährige treffen noch verabredungen. das ist gut und richtig, es ist teilnahme am leben.

was ich nicht verstehe ist die angst vieler menschen vor der beschäftigung mit der eigenen sterblichkeit. man fällt nicht tot um, weil man eine vorsorgevollmacht, eine patientenverfügung und ein testament verfasst. es ist fürsorge für die menschen, die sich im falle unseres todes oder einer schweren erkrankung oder einem unfall mit unserem leben beschäftigen müssen. sie werden gefragt und brauchen antworten, im idealfall unsere vorsorglich verfasste antwort.

in der näheren und weiteren verwandtschaft und im freundeskreis gab es viele streitereien ums erben, es gab todesfälle von sehr alten menschen, die keine verfügung hinterlassen hatten und deren letzte behandlungen zum streit unter den kindern führte. es gab kinder, die den tod der mutter annehmen konnten, und welche, die jede mögliche behandlung verlangten, obwohl die frau nicht mehr ansprechbar war. 

die zahl der menschen, die ich in den tod begleiten konnte, oder deren tod mich betroffen machte, stieg mit meinem alter. trotzdem gibt es menschen in unserer umgebung, die im letzten drittel ihres lebens jede vorsorge auf später schieben. wann ist später? jede/ jeder darf für sich selbst entscheiden. ich schreibe hier einige bücher auf, die ich in den letzten jahren gelesen habe. sie halfen mir dabei meine haltung zu finden.

Bücher mit dem Thema: Simone de Beauvoir, Alle Menschen sind sterblich(Unsterblichkeit)  und Ein sanfter Tod(Sterbebegleitung bei ihrer Mutter),  Melitta Breznik, Mutter, Chronik eines Abschiedes, Gabriele von Arnim, Das Leben ist ein vorübergehender Zustand(langsames Sterben des Ehemannes), Luisa Francia, Wer nicht alt werden will, muss vorher sterben(Nachdenken über das Lebensende), Herrad Schenk, Am Ende    - ich beende die Aufzählung, manche dieser Bücher sind alt und begleiten mich Jahrzehnte.

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"Leider wird das Leben komplzierter, wenn man älter wird. Es ist herrlich, jung zu sein und ein einfaches Leben zu haben, ohne von allzu viel Notwendigem gestört zu werden."

Patricia Highsmith 




 
 

gedanken an politik

                                                      Pfahlbauten Überlingen Wandzeitung? Friedrich von Logau (1604 - 1655) : Heutige Weltku...