Otto
Die Heerstraße ist sehr breit und reicht vom Funkturm bis Spandau. Sie führt zum großen Teil durch Waldgebiete. Etwa in der Mitte lag eine Siedlung, die nur aus sogenannten "Nissenhütten" bestand. Die Häuser aus runden Wellblechen, die das Dach und die Wände bildeten. Hier wurden in den letzten Kriegsjahren ausgebombte Berliner untergebracht, und später entwickelte sich der Ort zu einem sozialen Brennpunkt(würde man heute sagen).
Am Funkturm stieg ein Fahrgast ein und wollte in Richtung Spandau. Ich fuhr die Heerstraße runter ohne jegliche Bedenken. Es war schon nach Mitternacht und es regnete. Nach einer Weile wurde er merkwürdig unruhig und ich hatte ein dummes Gefühl. Was bedeutete das Fahrziel "Richtung Spandau"? Über Funk meldete ich mich und sagte: "OTTO fährt auf der Heerstraße in Höhe der Nissenhütten“.
OTTO war das Code-Wort für die Kollegen, dass ich mich bedroht fühlte. Im Nu waren einige Taxen mit aufgeblendetem Scheinwerfer hinter mir. Der Fahrgast wurde noch nervöser und wollte aussteigen, mitten in der Dunkelheit und kein Haus weit und breit. Er suchte in seinen Taschen nach Geld und zahlte den Fahrpreis. Er stieg aus und ich sah, dass der ganze Sitz nass war. Ich konnte ihn gerade noch am Mantel festhalten und sagte „Das kostet 10 Mark Reinigungsgebühr“. Die Kollegen standen noch mit aufgeblendeten Licht hinter mir. Der Fahrgast hatte offensichtlich große Angst. Ich bekam das Geld und er verschwand im Wald in Richtung Nissenhütten.
Über Funk bedankte ich mich bei den Kollegen und nach wenigen Sekunden lag die Heerstraße wieder da als sei nichts geschehen.
Der alte Mercedes 180D hatte Sitze mit Federkern und eine Rosshaar-Schicht. Der Urin konnte deshalb relativ schnell durch die Rosshaar-Matte auf den Boden fließen. Ich wendete auf der breiten Straße und fuhr zurück in Richtung Funkturm.
In den Messehallen fand einmal jährlich der Presseball statt. Dort trafen sich die Spitzen der Gesellschaft, sehen und gesehen werden war die Devise.
Dieser Ball fand gerade in diesem Abend statt und es war schon weit nach Mitternacht. Als ich dort vorbeifuhr stoppten mich zwei Paare in festlicher Kleidung. Die Herren im Smoking und die Damen mächtig aufgetakelt. Ich fühlte auf dem Vordersitz, er war nur noch etwas klamm, es ging. Ich hielt und die Fahrgäste nahmen Platz. Eine der Frauen mit einer weißen Stola und elegantem langen Kleid setzte sich auf den Vordersitz. Sie bemerkte mein Grinsen und fragte: „ Worüber freuen Sie sich denn so, junger Mann, darf man sich mitfreuen“? Ich sagte: „Ach wissen Sie junge Frau, dass kann ich Ihnen gar nicht erklären“.
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"Erinnerung ist wichtiger als aktuelle Wahrnehmung oder Utopien, das ist Prousts großes Vermächtnis und seine tröstliche Verheißung." Florian Illies, Liebe in Zeiten des Hasses
Am 10. Juli 1871 wurde Marcel Proust in Auteuil geboren.
Heute ist aber auch der Sterbetag von Erich Mühsam, er wurde im KZ Oranienburg ermordet.
Es sind schon seltsame Dinge, die einem Taxifahrer (oder einer Taxifahrerin) geschehen können. Und manche Geheimnisse werden sich wohl nie lüften...
AntwortenLöschenEinen nachdenklichen Heutegruss,
Brigitte
P.S. Der 10 Juli ist auch der Geburtstag eines unserer Söhne.
ich hoffe, ihr konntet feiern trotz der hitze. liebe grüsse von roswitha
LöschenHallo Roswitha, ich fahre ganz selten mit dem Taxi, weil meist die öffentlichen Verkehrsmittel ausreichen, seit ich kein eigenes Auto mehr habe.
AntwortenLöschenMir ist es so in Erinnerung, dass im Normalfall die Fahrgäste NICHT vorn neben dem Fahrer sitzen, sondern hinten. Nur, wenn 4 Personen befördert werden sollen, kann der auf dem Vordersitz auch den Sitz nass machen - blöder Scherz.
Einen lieben Gruß zu dir von Clara
liebe clara, ich sitze im taxi immer vorne, weil da mehr platz für die füsse ist, sagt nie jemand nein. öffentliche verkehrsmittel fehlen hier über viele stunden, finanzieren wir in den städten. da nutzt auch ein preiswertes ticket nichts, wenn es keine zuverlässigen anschlüsse gibt. lieben gruß, roswitha
Löschen„Nissenhütten“ ist eine gar schreckliche Bezeichnung von Behausungen! Meint Sonja
AntwortenLöschenda hast du recht, aber die berliner neigen auch dazu, dinge umzunennen(goldelse etc.). und nissen waren in der nachkriegszeit verbreitet, leider hielt sich diese bezeichnung für die bauten auch zehn jahre nach kriegsende noch, sind sicher lange weg. lieben gruß, roswitha
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