Donnerstag, 3. April 2025

ostern vor achtzig jahren, eine wanderung


vor genau achtzig jahren ging meine zukünftige, neunzehnjährige mutter mit ihrer gleichaltrigen freundin gerda aus aachen und dem siebzehnjährigen jupp aus st. vith in belgien quer durch deutschland. dieser tage las ich ihren bericht wieder, da überall an das achtzigjährige kriegsende gedacht wird. 

voller dankbarkeit über mein leben ohne krieg werde ich dabei, wir "nach dem krieg" geborenen hatten glück und hielten unser leben für selbstverständlich. aber krieg hatte es immer irgendwo gegeben, nur so nah war er uns nie gekommen. was haben wir falsch gemacht, dass machthungrige alte männer so mit dem leben der menschen spielen können? nehmen wir unsere lebenserfahrung und unsere dankbarkeit, um daraus die kraft zu schöpfen, die wir für unseren widerstand brauchen. setzen wir uns ein in familie und nachbarschaft und gesellschaft. helfen wir mit unsere demokratie zu erhalten. 

 

"Die Ereignisse überstürzten sich im Ende Februar. Unsere Arbeit wurde eingestellt, jeder wollte nach Hause, aber wie? Kein Zug fuhr mehr Richtung Heimat. Am Gasthof Lindenhof standen meine Freundin Gerda und ich oft mit anderen, um eine Möglichkeit zur Heimreise zu finden. Durch unseren rheinischen Dialekt fielen wir einem jungen Mann auf. Jupp war erst siebzehn Jahre und stammte aus St. Vith in Belgien. Da Gerda aus Aachen war, hatte er fast den gleichen Weg und durfte sich an unseren Reisevorbereitungen beteiligen. Er konnte seine Taschenuhr gegen einen Handwagen tauschen, der sich sehr bewährte.

Nach einer Woche gingen wir los. Unsere einzige Orientierung war eine Bahnstreckenkarte. In der Nähe war ein Verpflegungslager gesprengt worden, hier luden wir unseren Handwagen voll mit Kunsthonig, Grieß und Zucker. Eine Zeltplane als Abdeckung kam darüber, wir fühlten uns reich und frei, bereit für den langen Weg. Aber auch mit unseren gehorteten Schätzen zahlten wir das Notwendige. Unser Geld wollte niemand! Entgegen der Erwartung meiner Zimmerwirtin fiel der Handwagen nicht auseinander, wir kamen in der Karwoche 1945 am Rhein an. Amerikaner griffen uns auf und trieben uns mit vielen anderen Menschen in einen großen Hof. Dort wurden wir alle mit DDT eingestäubt, zur Bekämpfung eventueller Läuse oder Flöhe.

Über eine Brücke kamen wir nach Rheinhausen, endlich waren wir linksrheinisch, unsere Heimat rückte näher! Um neunzehn Uhr mussten wir von der Straße sein, es gab Ausgangssperre. Die Berichte der Menschen aus dem Westen waren düster, an dieser Front wurde noch gekämpft. Die Ortsansässigen sagten uns, wir sollten nur auf der Strasse laufen, um Überfällen von Fremdarbeitern zu entgehen.

An einer großen Kreuzung bei Mönchengladbach fragten wir eine ungefähr vierzigjährige Frau nach dem Weg Richtung Aachen. Auf diese Frau machten wir einen so guten Eindruck, dass sie uns fast nötigte, über Ostern bei ihr zu bleiben. Es war Gründonnerstag, 29. März 1945! Bis Dienstag nach Ostern blieben wir bei ihr, sie hatte Mann und Sohn im Krieg und wollte Ostern nicht allein sein. Zum Dank gaben wir dieser Frau unsere Reste vom Grieß, Zucker und Honig. Alle hatten wir beim Abschied Tränen in den Augen."

die strecke von porta westfalica nach aachen beträgt ca. 300 km. laut routenplaner beträgt die reisezeit mit dem auto ca. drei stunden. die jungen leute damals brauchten etwa sechs wochen. sie kamen alle gut an, den handwagen gibt es immer noch, oftmals aufgearbeitet, in der eifel.

4 Kommentare:

  1. Wow! Das sind tief beeindruckende Zeitdokumente, die wir Nachkriegsgeneration kaum noch nachvollziehen können. Und doch wird alles wieder brüchiger und unsicherer für die kommende Generation. Wir können nur hoffen und dankbar sein für unser bisheriges "einfaches" Leben.
    Einen nachdenklichen Gruss, Brigitte

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  2. Da hast du ja einen schönen Schatz!
    Meine Mutter hat erst wenige Zeit vor ihrem Tod aufgeschrieben, was in den drei Jahren an Flucht & Vertreibung passiert ist, bevor sie 1948 in Altheim mit ihrer Mutter untergebracht worden ist. Ich habe es nicht lesen können und wieder an meine Schwester zurückgegeben. Gegen ihre "Melancholie" habe ich immer angearbeitet, mein selbst auferlegter Auftrag, sie glücklich zu machen, hat mich bis zu ihrem Tod gefordert.
    Gestern noch mit meiner Freundin darüber gesprochen, was für ein Glück wir hatten, in dieser Epoche der Geschichte gelebt zu haben. Für meine geliebten Enkelkinder hätte ich mir das auch gewünscht.
    Sonnige Grüße aus Köln!
    Astrid

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  3. Welches GLÜCK 🍀
    ... schriftliche, so persönliche Zeitdokumente zu besitzen 🙏🏻

    Meine Eltern und meine Verwandten haben diesbezüglich nichts hinterlassen, und erzählt haben sie auch nicht viel ... war wohl alles sehr traurig, traumatisierend, sie wollten es nur vergessen 🤦🏻‍♀️
    Ich habe vieles, auch filmisch aufgearbeitetes - über all die vergangenen Jahre - gelesen und gesehen... bin dadurch informiert... seufz!

    Und so dankbar in friedlichen Zeiten, bis jetzt gelebt zu haben, und wie IHR es oben schon geschrieben habt ... würde ich es auch - so sehr - für meine Nachkommen wünschen 🙏🏻

    Die OSTERZEIT steht an,
    und ich werde sie - in und mit der Familie - genießen... und die Momente leben ... dankbar und demutsvoll, im Glauben und in der Hoffnung der allumfassenden LIEBE ...💖

    Herzlichste Frühlingsgrüße 🌞🍃🪻☔
    von Annette 💞 🙋🏻‍♀️

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  4. Was für ein Ausschnitt aus drei Leben, da habe ich Gänsehaut, darin zu lesen. Vielen Dank, dass Du diese Erinnerungen Deiner Mutter mit uns teilst!

    Vor achtzig Jahren, zu Kriegsende, waren meine Eltern 7 bzw. 4,5 Jahre alt. Mein Vater kann sich noch an die Mühlviertler Hasenjagd erinnern, ein sehr grausames Kapitel der damaligen Zeit. Meine Mutter konnte sich erinnern, dass sie von Soldaten Zeichenstifte geschenkt bekam.

    Auch, wenn wir niemals all diese Schrecken persönlich erleben mussten, denke ich immer wieder, dass überall auf dieser Welt ein Krieg der Worte, der Ideologien, der Intoleranz und der Drohgebärden weniger Leute herrscht, die an den Schalthebeln der Macht sitzen.
    Mir erscheint bereits diese Form von Krieg als äußerst bedrohlich.
    Nachdenkliche Grüße aus Österreich, C Stern

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