Dienstag, 5. Februar 2019

Feierabend

Die Zeit läuft rückwärts

Brockmüller war einer der Menschen, nach denen man sprich-
wörtlich seine Uhr stellen konnte. Vom morgendliche Aufstehen
bis zum Schlafengehen erledigte er präzise wie ein Uhrwerk
alle notwendigen Verrichtungen des Tages.
Gewiss, er war freundlich. Aber auf eine Art, die seinen inneren
Zeitplan nicht gefährdete. Ein paar unverbindliche
Worte zum Hausmeister im Finanzamt, seiner Arbeitsstätte,
oder zu Nachbarn gehörten selbstverständlich zu seinem Um-
gang mit Menschen, denen er im Alltag begegnete. Durch diese
Korrektheit glaubte er zweifellos, seinerseits ein Anrecht
auf einen reibungslosen Ablauf der Tage zu haben. Das Single-
leben war wohlgeordnet, er hatte sich einen Lebensrahmen
geschaffen, der frühere beunruhigende Turbulenzen
seiner Meinung nach ausschloss.
Auch heute war er pünktlich um 16.30 Uhr aus dem Büro
gegangen. Er schritt zur Rückseite des Gebäudes, wo er immer seinen
Mittelklassewagen parkte. Neben dem Auto stand
eine junge, unbekannte Frau, die ihn anschaute. Der direkte
Blick dieser Frau war ihm sehr unangenehm. Er ging an ihr
vorbei, setzte sich ins Auto und fuhr weit ausholend um sie
herum. Irritiert nahm er im Rückspiegel ein zaghaftes Winken
wahr.
Er fühlte sich belästigt! Fast hätte er eine rote Ampel über-
sehen. Irgendwie erleichtert schloss er heute seine Haustür
hinter sich und begann die übliche Feierabend-Routine.

Nach dem Abendbrot legte er eine Langspielplatte mit Musik
von Beethoven auf.
Kurz bevor er den Kopfhörer aufsetzen konnte klingelte es.
Verärgert über diese Störung riss er abrupt die Türe auf.
Schon wieder diese junge Frau !
" Sie wünschen?" fragte er barsch.
" Ich muss Sie sprechen, es ist ganz wichtig, auch für Sie",
stammelte die Frau.
Brockmüller wollte endlich seine gewohnte Ruhe wiederhaben
und entgegnete ungeduldig: "Bitte, so sprechen Sie doch!"
Die Frau schaute ihn an und flüsterte: "Ich habe gestern
erfahren, dass Sie mein Vater sind."

© Roswitha 

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