vor genau achtzig jahren ging meine zukünftige, neunzehnjährige mutter mit ihrer gleichaltrigen freundin gerda aus aachen und dem siebzehnjährigen jupp aus st. vith in belgien quer durch deutschland. dieser tage las ich ihren bericht wieder, da überall an das achtzigjährige kriegsende gedacht wird.
voller dankbarkeit über mein leben ohne krieg werde ich dabei, wir "nach dem krieg" geborenen hatten glück und hielten unser leben für selbstverständlich. aber krieg hatte es immer irgendwo gegeben, nur so nah war er uns nie gekommen. was haben wir falsch gemacht, dass machthungrige alte männer so mit dem leben der menschen spielen können? nehmen wir unsere lebenserfahrung und unsere dankbarkeit, um daraus die kraft zu schöpfen, die wir für unseren widerstand brauchen. setzen wir uns ein in familie und nachbarschaft und gesellschaft. helfen wir mit unsere demokratie zu erhalten.
"Die Ereignisse überstürzten
sich im Ende Februar. Unsere
Arbeit wurde eingestellt, jeder wollte nach Hause, aber wie? Kein Zug
fuhr mehr Richtung Heimat. Am Gasthof Lindenhof
standen meine Freundin Gerda und ich oft mit anderen, um eine
Möglichkeit zur Heimreise zu finden. Durch unseren rheinischen
Dialekt fielen wir einem jungen Mann auf. Jupp war erst siebzehn
Jahre und stammte aus St. Vith in Belgien. Da Gerda aus Aachen war,
hatte er fast den gleichen Weg und durfte sich an unseren
Reisevorbereitungen beteiligen. Er konnte seine Taschenuhr gegen
einen Handwagen tauschen, der sich sehr bewährte.
Nach einer Woche gingen
wir los. Unsere einzige Orientierung war eine Bahnstreckenkarte. In
der Nähe war ein Verpflegungslager gesprengt worden, hier luden wir
unseren Handwagen voll mit Kunsthonig, Grieß und Zucker. Eine
Zeltplane als Abdeckung kam darüber, wir fühlten uns reich und
frei, bereit für den langen Weg. Aber
auch mit unseren gehorteten Schätzen zahlten wir das Notwendige.
Unser Geld wollte niemand! Entgegen der Erwartung
meiner Zimmerwirtin fiel der Handwagen nicht auseinander, wir kamen
in der Karwoche 1945 am Rhein an. Amerikaner griffen uns auf
und trieben uns mit vielen anderen Menschen in einen großen Hof.
Dort wurden wir alle mit DDT eingestäubt, zur Bekämpfung
eventueller Läuse oder Flöhe.
Über eine Brücke kamen
wir nach Rheinhausen, endlich waren wir linksrheinisch, unsere Heimat
rückte näher! Um neunzehn Uhr mussten wir von der Straße sein, es
gab Ausgangssperre. Die Berichte der Menschen aus dem Westen waren
düster, an dieser Front wurde noch gekämpft. Die Ortsansässigen
sagten uns, wir sollten nur auf der Strasse laufen, um Überfällen
von Fremdarbeitern zu entgehen.
An einer großen Kreuzung
bei Mönchengladbach fragten wir eine ungefähr vierzigjährige Frau
nach dem Weg Richtung Aachen. Auf diese Frau machten wir einen so
guten Eindruck, dass sie uns fast nötigte, über Ostern bei ihr zu
bleiben. Es war Gründonnerstag, 29. März 1945! Bis Dienstag nach
Ostern blieben wir bei ihr, sie hatte Mann und Sohn im Krieg und
wollte Ostern nicht allein sein. Zum Dank gaben wir dieser Frau
unsere Reste vom Grieß, Zucker und Honig. Alle hatten wir beim
Abschied Tränen in den Augen."
die strecke von porta westfalica nach aachen beträgt ca. 300 km. laut routenplaner beträgt die reisezeit mit dem auto ca. drei stunden. die jungen leute damals brauchten etwa sechs wochen. sie kamen alle gut an, den handwagen gibt es immer noch, oftmals aufgearbeitet, in der eifel.