Achim
mit den blauen Haaren
Der
Typ stand an jenem Maitag wie aus dem Boden gewachsen vor mir, als
ich von der Zeitung aufschaute.
Selten
wurde ich angesprochen, obwohl ich fast jeden Tag im Park war und auf
dieser Bank saß.
Der
sah vielleicht aus: Blaue Haare, Militärhose, enger lila Pullover,
Ohrringe beidseitig.
„ Hallo,
ich bin Achim “, sagte er bedächtig und setzte sich.
Irgendwie
stand seine grelle Aufmachung im Widerspruch zu seiner Ausstrahlung.
Die hängenden Schultern und der Gesichtsausdruck wirkten traurig.
Ich
ließ die Zeitung sinken: „ Na, hast du Probleme? “
„ Ich
suche Menschen, um mich mit ihnen zu freuen. Darf ich dich kennen
lernen ? “
„ Du
bist jung, du bist soweit ich sehe gesund, hast Zeit vormittags hier
im Park zu sein. Was fragst du mich? Ich bin alt und nicht gesund. “
Betroffen
schaute er mich an.
„ Warum
fragst du ausgerechnet mich? “, wiederholte ich.
„ Weil
du allein bist, du liest Zeitung “, stellte er fest.
„ Klar
bin ich allein, aber Zeit habe ich trotzdem nicht, ich bin sogar sehr
beschäftigt “, schnauzte ich ihn an und wollte aufstehen.
Er
legte seine Hand auf meinen Arm und sah mich eindringlich an. Ich
blieb sitzen, fühlte mich jedoch unbehaglich.
„ Du
liest immer Zeitung, hinterher weißt du, was weit entfernt passiert.
Was hier vor deiner Nase los ist, weißt du nicht. Erinnerst du dich
wie es ist, einem anderen Menschen zu begegnen und zu erkennen, was
in seinen Augen sichtbar wird?“
Unverfroren
und hartnäckig war diese Kreatur!
Wütend
wollte ich aufbegehren. Ich schaute in seine Augen und schwieg.
Trauer machte mich sprachlos. Recht hatte er, ich wohnte seit vielen
Monaten hier und kannte noch niemanden wirklich. Die kostbaren
Augenblicke im Alltag, in denen ich mich nicht in einer Rolle fühlte,
waren rar. Es wäre schön, gelegentlich mit jemanden spazieren zu
gehen oder zu reden.
Die
vorübergehenden Menschen starrten uns an, seine blauen Haare fielen
auf.
Lächelnd
meinte er: „ Wenn du mitmachst, lernen wir einander kennen! “
„ Ich
bin nicht froh, ganz im Gegenteil. Ich habe viel im Leben mitgemacht.
Such dir doch junge Leute “, wehrte ich ab.
„ Wir
reden miteinander, das Alter ist dabei gleichgültig. Wir sollten
weiterreden und etwas gehen. Was war dir schwer im Leben, worüber
kannst du lachen? Hast du Fragen an mich? “
„ Ja,
warum färbt jemand seine Haare blau? “, entfuhr mir spontan.
„ Warum
können Haare nicht einmal blau wie der Himmel sein? Ich will, dass
die Menschen lachen, und wenn es über blaue Haare ist. Noch lieber
wäre mir natürlich, wenn mich jemand anspräche und ein Austausch
zustande käme “ bemerkte er, als wir aufstanden.
Ergeben
steckte ich die Zeitung ins Jackett und spazierte neben dem jungen
Mann durch die Anlagen. Gott sei Dank kannte mich kaum jemand!
„ Da
kommt ein Luftballonverkäufer, der zur Kirmes will, “ rief er
plötzlich und zeigte Richtung Ausgang, „ ich werde uns zwei
Ballons spendieren. Komm mit! “
Die
Idee war so grotesk dass mir kein Einwand einfiel.
Er
kaufte sich einen herzförmigen Ballon in grellem Rosa, ich suchte
mir einen runden blauen aus.
Die
Menschen beobachteten uns kopfschüttelnd als wir weitergingen.
Zaghaft
kamen erste Sonnenstrahlen durch die Dunstschleier und wärmten. Der
Flieder roch betörend. Es würde ein schöner Tag werden.
Behutsam
ging dieser junge Mann neben mir, der mein Enkel sein könnte.
Sorgsam passte er seine Schritte meinem gemächlichen Gang an.
„ Sieh
nur, die Menschen staunen, wenn sie uns erblicken “, rief er aus
als wir in die Hauptstraße kamen. War das wirklich so? Die Kinder
lachten, die Erwachsenen starrten uns an.
Links
und rechts von uns wehten die Ballons.
Ich
fasste Achims Arm.
„ Komm
mit mir, ich lade dich ein in die Cafeteria unseres Altenheimes“, entschlüpfte mir.
Es
geschah etwas Eigentümliches: Ich fühlte mich frei wie lange nicht
mehr, leicht und beschwingt.
Es
gab noch Leben vor dem Tod!
Schallend
begann ich zu lachen, alles war schrullig und ungewohnt und herrlich.
Ich,
der alte Richter Hildebrand, ging mit einem jungen Punker Luftballons
schwingend durch den Ort!
Die
beiden Luftballons banden wir ans Geländer beim Eingang des
Altenheimes.
Achim
sagte, die Vorübergehenden würden sich freuen.
- Entspannte und spannende Feiertage wünsche ich.