Montag, 31. Januar 2022

ratloses portrait

 

                                                        Heiko Pippig 2009

die selbstdarstellungen verschiedener menschen im fernsehen hatten ihren vorlauf auch in werbeaktionen. menschen konnten werbefotos einreichen, in denen sie für ein produkt warben. es gab vielleicht einen geldbetrag, oder einen kurzen fernsehauftritt. ich traf einen mann, der für einen schnaps ein foto eingereicht hatte. er hatte noch immer ein zerknittertes foto bei sich.


Der Jägermeister

Das Bilddokument im Geldbeutel

dargeboten wie bei der Passkontrolle,

hundert Mark hat es gebracht

vor zwanzig Jahren

und freie Fahrt nach Köln.

Fünf Minuten Ruhm bei Sat eins

beseitigen nicht die Verbitterung

geschärft mit Arbeit am Band,

fruchtloser Betriebsratstätigkeit

und gescheiterter Familie.

Irgendwer muss schuldig sein

im Betrieb, in der Familie

und im Arbeitsamt.

Sein Bauch schwillt an:

angestaute Wut und Pils,

Verwirrung angesichts der

Reste seines gefühlt 

glanzlosen, verrinnenden Lebens -

das soll alles gewesen sein?




Donnerstag, 27. Januar 2022

parallelwelt obscur


 nicht zum anfassen und trotzdem wertvoll-  dieser überschrift ließ mich an ganz andere dinge denken, als im darauf folgenden bericht vorkamen. julian lennon versteigert im februar digitale fotos von sammlerstücken seines vaters john lennon. um diese fotos aufzuwerten, schreibt er (digital)jeweils die geschichte des abgebildeten gegenstandes dazu. so wurde der preis für die handschriftlichen notizen des songs "hey jude" mit dem audiokommentar julians auf 62 000 euro geschätzt. 

das NFT- system basiert auf der blockchain- technologie. ich verstehe davon nichts, weiß aber, dass dieses system durch seine ausweitung zu einem immer größer werdenden stromverbrauch führt und sehr klimaschädlich ist. zum glück hat lennon eine stiftung gegründet, die den co2- gehalt in der atmosphäre reduzieren soll. gehts noch?

in der zeitung von heute steht, das diese NFTs einen boom ausgelöst haben, sammler zahlen für digitale gemälde und musik millionenbeträge. lady melania trump will demnächst auch dinge anbieten. und die tennisspiel- schwestern williams sind in einem "bored ape yacht club". auf dessen plattform werden jeweils 10 000 einzigartige versionen eines gelangweilten comicaffen angeboten. seit der gründung des virtuellen clubs im april 2021 betrug der umsatz dort laut der handelsplattform OpenSea fast eine milliarde dollar. ich bin fassungslos.

info: ein Non-Fungible Token (NFT), auf deutsch etwa "nicht -austauschbare wertmarke" ist ein digitales echtheitszertfikat. 

zum glück habe ich noch die wahl, kann einfach analog in ein geschäft gehen oder auch in einem atelier kunst anschauen und kaufen. und dann trage ich sie ohne stromverbrauch nach hause und suche einen geeigneten platz dafür. für die virtuellen kunstwerke braucht man nicht mal einen echten nagel! und was ist wenn der strom ausfällt? 

Sonntag, 23. Januar 2022

menschenhändler und bretzelbäcker






um unsere wohnung sind im fünfminutenweg über vier ehemalige bäckerreien, finde ich rätselhaft. die menschen, meist frauen, backten ihr brot oft selbst. aber es wurde wegen brandgefahr in der dichten fachwerkbebauung im backofen des bäckers gebacken. die bäcker hatten offensichtlich ein gutes einkommen und konnten sich große, prächtige häuser bauen. zwei der bäckereien stehen sich  gegenüber. wie mag es um 1880 gewesen sein, als wenige jahre nach einem neubau eine zweite bäckerei gebaut wurde(1866 und 1879)?

-----------------------------------------------------
und dann bin ich beim stadtbummel heute noch auf eine konkurrenz der arbeitsagentur gestossen.
nun rätsele ich darüber, ob die mitarbeiter mit dieser regelung einverstanden sind und woher der nachschub an personal kommt. (warum sagt niemand etwas, soll es so sein?)

 

 


Mittwoch, 19. Januar 2022

zeitvertreib und mehr

 

                                             am Marktplatz in Hildesheim

Buchempfehlungen

Dilek Güngör, Vater und ich, Verbrecher- Verlag: eine Tochter möchte sich ihrem Vater wieder annähern, einem Gastarbeiter der ersten Generation. Einst war eine Nähe zwischen Vater und Tochter, nun herrscht schon lange Schweigen. Sie erzählt von der Sprachlosigkeit und den hilflosen Gesten, diese zu überwinden. Das Buch berührt mich sehr, es führte mich in eine mir fremde Welt und kam mir trotzdem nah.

 Albrecht Selge, Fliegen, Rowohlt Berlin : Eine wegen Eigenbedarfskündigung wohnungslos gewordene Rentnerin kauft sich eine Bahncard 100 und lebt in Zügen. " Eine Geschichte übers Aufstehen und Weiterfahren, über Obdach und Würde" steht im Klappentext. Ich verdanke diesem Roman viele gute Gedanken und wiederbelebte Erinnerungen. Sehr gerne gelesen, in (fast) einem Zug.

Joachim Meyerhoff, Hamster im hinteren Stromgebiet, Büchergilde Gutenberg: "Was passiert, wenn man durch einen gesundheitlichen Einbruch auf einen Schlag aus dem prallen Leben gerissen wird?" steht auf der Rückseite. Die SWR- 2 Kritik: "Meyerhoff erweist sich einmal mehr als Meister der Balance zwischen schreiender Komik und tiefer Traurigkeit". Bitte lesen!

-------------------------------------------------------------------------------------------------------

in dieser zeit, in der wenig betrieb in der fußgängerzone ist, viele menschen etwas mundfaul durch masken reden und nichts wirklich neues passiert, lese ich umso mehr. es wird einmal wieder anders werden, plaudernd werde ich im buchladen kaffee trinken, am marktplatz touristen den rechten weg zeigen und ureinwohner grüssen. am lagerfeuer werden wir einst darüber sinnieren, was wir eigentlich anders hätten machen können. hinterher ist man meistens schlauer...

beim romme- kartenspiel mit den enkelkindern und mann habe ich am sonntag gewonnen, zum ersten mal seit ewigen zeiten.



Samstag, 15. Januar 2022

zeit und eile

 

                                       ein pferd in hildesheim, bodenständig liegt es im pflaster


Keine Eile...

Ich habe keine Eile.
Wozu Eile?
Sonne und Mond haben keine Eile: Sie tun recht daran.
Wer Eile hat, glaubt, er kann seine Beine überholen.
Oder mit einem Sprung über seinen Schatten springen.
Nein, ich habe keine Eile.

(...)

Fernando Pessao, 1888 - 1935
portugiesischer Dichter und Schriftsteller
------------------------------------------------------------------------------------------------------
ja, ich werde ruhig und gelassen sein, wenn ich es schaffe. ich werde sämtliche ideen schritt für schritt umsetzen, werde bilder malen, ein lied singen und dem schicksal einen streich spielen. meine fähigkeiten zum schutz erstrecken sich nicht über viele menschen, manchmal reichen sie nicht einmal für mich. dann besinne ich mich und atme tief ein und gehe neu los.
keine kann den sturm der zeit einfangen, es sei denn, sie wäre ein segel. 

Mittwoch, 12. Januar 2022

zwei damen im freien

 


da sitzen unsere beiden damen im schnee, es macht ihnen nichts. der wind hat das windrad von susi verweht, dafür hat die alte dame hedwig einen dicken filzhut an. nein, keinen aluhut, alu hat sie auch aus ihrer küche verbannt. da holt man nun backofenpapier für, wo früher alufolie war.

sie sind müde, die damen, es passiert wenig, es gibt nichts zu schauen und kein fest, nicht mal im freien. 
aber wenn der sommer kommt...

                                            andere seufzen auch:    Der Seufzer, von Christian Morgenstern


Ein Seufzer lief Schlittschuh auf nächtlichem Eis

   und träumte von Liebe und Freude.

Es war an dem Stadtwall, und schneeweiß

   glänzten die Stadtwallgebäude.

 

Der Seufzer dacht an ein Maidelein

   und blieb erglühend stehen.

Da schmolz die Eisbahn unter ihm ein -

   und er sank - und ward nimmer gesehen.


----------------------und damit es etwas zu lachen gibt: 

in der kaninchenschule ist aufklärungsunterricht angesagt. sagt am ende der stunde ein kaninchen:
"ach, und was ist mit dem zylinder?"




Sonntag, 9. Januar 2022

ungewolltes und abseitiges


" Ich grinste in mich hinein, während er auf seinem Sitz herumzappelte. Ich mochte ihn nicht, allerdings nicht, weil er so war, wie er war, sondern, weil er sich selbst nicht mochte und mich zwang, die Kleinlichkeit meines Charakters zu offenbaren, die mich dazu brachte, derart hässliche Dinge zu sagen. Aber ich durfte keinesfalls zulassen, dass er mich kampflos besiegte." 
aus: Vincent O. Carter, Meine weisse Stadt, Limmat- Verlag

das bern- buch des aus USA stammenden autors über den alltäglichen rassismus bewegt und erschreckt mich. und sätze wie der oben machen mich betroffen. auch ich kenne die situationen, in denen mich ein mensch so provozierte, dass ich etwas tat oder sagte, was ich nicht wollte. manchmal erschrecken mich eigene gedanken, tief in mir drin muss es sie geben, ich will sie mit verstand nicht. etwas in mir, ist es das unbewusste, von dem psychologen sprachen? warum lasse ich mich provozieren? 
ich möchte gut und freundlich und voller verständnis sein, tolerant und offen. so war mein idealistisches bild von mir 😒


dekorative säule am schaufenster

es gibt also auch von uns eine schauseite und eine abseite. meine oma sagte dazu, der mensch sei nicht vorne wie hinten. damit hatte sie auch recht.









 

Donnerstag, 6. Januar 2022

fragen und antworten




Fragen und Anworten aus : Wolfgang Neuss Buch von Volker Kühn, Satire-Verlag, Köln 1981:

Frage: Sind Sie ein notorischer Weltverbesserer?    Neuss: Ich bin ein Utopiepel.

Frage: Kann man davon leben?  Neuss: Man kann. Leben kann man immer.  (1967)

Frage: Hast Du Pläne? 

Neuss: Ich habe immer Pläne. Ohne Pläne ist doch alles Dreck im Leben. Ohne Liebe auch.

Frage Wie sehen die aus?

Neuss; Ich warte auf mein drittes Auge. Ich hab`s zwar schon, aber noch nicht an der richtigen Stelle. Bis es soweit ist, arbeite ich.

Frage: Wie sieht das aus?  Neuss: Ich sitze und lausche.  (1980)

---------------------------------------------------------------------------------------------------

so lakonisch und klar in einem interview konnte dieser chaot sein, mit einer inneren ruhe, ohne sich darstellen zu wollen. auf was lauschte wolfgang? er, der kriegsteilnehmer, war wie viele seiner altersgenossen beschädigt und suchte eine antwort auf viele fragen. diese generation leidet bis heute zum teil heftig an den seit fast 80 jahren vergangenen erlebnissen. warum können menschen nicht aus der geschichte lernen? oder können sie es? 

-----------------------------------------------------------------------------------------------------

Interview mit Bernard Shaw:

Ein aufdringlicher Reporter fragte: "Glauben sie an so etwas wie Glück, Mr. Shaw?"  "Unbedingt!" antwortete Shaw. "Wie sollte man sonst wohl den Erfolg erklären, den Leute haben, die einem unsympathisch sind?"




 

Montag, 3. Januar 2022

unterwegs


 "Freude in der Ansagestimme, dass der ICE 1207 fünf Minuten vor Fahrplan am Zielbahnhof sei. Sie war ja nicht am Ziel, was soll sie mit der Zeit. Nicht sparen. Aber auch nicht vertreiben, Zeit sparen und Zeit vertreiben, eins so furchtbar wie das andere. Verschenken vielleicht, das wär was, wenn man etwas von der Zeit einem Bedürftigen schenken könnte. Einem Nervösen, Hechelnden, Flattrigen."    

aus: Fliegen, Albrecht Selge, Rowohlt Berlin 2019

da fährt eine rentnerin, die durch eine eigenbedarfskündigung wohnungslos wurde, mit einer bahncard 100 durch unser land. bei einer freundin in einer stadt erhält sie ihre rare post, irgendwo gibt es ein rentenkonto bei der bank. sie lebt im zug, wäscht sich in der behindertentoilette, duscht gelegentlich in bahnhöfen. da ihr geld kaum reicht, sammelt sie heimlich pfandflaschen. manche menschen werden ihr bekannt. sie hat einen genau ausgerechneten plan der zugabfolgen, weiß wo sie besser schlafen kann. sehr bewegend zu lesen, wie sie sich in ihrer situation einrichtet. mehr will ich nicht erzählen, lest selbst, mich erschreckt, dass so ein leben denkbar ist.

heute war der erste werktag im jahr 2022, die politiker künden alles mögliche an verbesserungen an. das jahr ist noch jung, geben wir ihnen eine chance. und bleiben wir hellwach und denkfähig, mehr unter menschen als in "sozialen medien" sollten wir uns umschauen. bleiben wir in der kommunikation mit unseren mitmenschen.   

Veränderungen

                                               Kunstpark Seckach   Marie von Ebner-Eschenbach Das eilende Schiff, es kommt ...